Genyen Expedition
Das Geheimnis des Mount Genyen: mit dieser Idee im Kopf und im Herzen sind wir vor circa drei Wochen von Italien gestartet. Mit einigen Satelittenfotos und den wenigen Informationen die wir vom Gebiet, das wir für unser Abenteuer ausgesucht haben, zur Verfügung hatten. Und es ist wirklich ein Abenteuer, schon die Anfahrt zum Massiv: mit dem Jeep befahren wir eine unendlich scheinende Anreihung von Tälern, eines nach dem anderen, bis wir ins Tibetische Hochland gelangen, mit Pässen über 4000 Metern. Je weiter wir kommen, desto schlechter werden die Strassen und am letzten Tag brauchen wir fast 8 Stunden um die 91 km die uns von Lithang nach Zhanla trennen, zu bewältigen. Staunend betrachten wir jedoch die unglaubliche Schönheit dieser Orte, die uns zumindest teilweise die Schwierigkeiten der Strasse vergessen lässt. Wir verlassen die chinesische Art und Weise, und begegnen immer mehr den Zeugnissen der tibetischen Kultur. In nur einem Tagesmarsch begehen wir, mit Hilfe von Yaks und Pferden das Haupttal, das uns in das Herz der Mount Genyen Gruppe bringen wird. Für viele Stunden können wir dieses Massiv, das vor uns liegt, in seiner ganzen Pracht bewundern.
Als wir das Basislager aufstellen, sind wir wirklich sehr nah an diesem tibetanischen Kloster, das wir uns so lange in Gedanken vorgestellt haben und dieser Ort ist noch viel schöner und wunderbarer, wenn überhaupt möglich, als wir je es zu träumen gewagt haben. Dieses „Wunderland-Tal“ wie jemand von uns es genannt hat, wird von zwei Teilen riesiger Granitwände und Platten begrenzt, soweit das Auge reicht, sie bilden den Sockel für die großen verschneiten Gipfel. Im Tal gibt es eine reiche Vegetation, Wasserläufe und Ebenen, in denen der Fluss langsamer wird und das Gras und die Blumen rundherum Oasen bilden. Dieser Ort ist wirklich reizend um unser Basislager aufzustellen; wir sind auf 4060 Metern Meereshöhe und es geht uns allen gut. Und so gehen wir nach 2 Tagen schon auf Erkundungstour in das Herz dieses „Gehirns“ und um sein Geheimnis besser zu verstehen steigen wir auf einen leichten Gipfel auf 5000 Meter Höhe. Von hier zeigt der Mount Genyen seine beunruhigende, imposante Nordwand und die Täler ringsum geben eine Vielfalt von unbekannten Gipfeln preis. Die Begeisterung, an diesem Erforschungsprojekt teilnehmen zu können ist bei uns allen groß. Aber auch wir werden unsererseits bald Objekt von Forschung seitens der Mönche des Klosters. Diese haben anscheinend noch nie Begegnungen mit der westlichen Welt gehabt und somit bedeuten wir für sie eine wahre Seltenheit.
Das Verhältnis mit Ihnen wird jeden Tag freundschaftlicher; sie erzählen uns wie diese Täler nach ihrer Religion gebildet wurden und wie diese Berge für sie heilig sind, unerreichbar für den Menschen. Mit großem Interesse folgen wir Ihren Erzählungen. Zwar haben die Mönche auf so manchen, gar nicht so leicht erreichbaren Gipfel ringsum, gut sichtbare Zeugnisse ihrer Religion hinterlassen, die großen, verschneiten Gipfel und vor allem der Genyen, mit seinen Fels- und Eispfeilern und den riesigen Hängegletscher, sind jedoch für den Menschen nicht erreichbar. Vielleicht ist das Geheimnis des Genyen bereit sich zu lüften. Unsere professionellen Kameramänner, Armin und Hans Peter sind dauernd damit beschäftigt alles was uns umgibt und das Staunen das uns täglich befällt, filmisch zu dokumentieren. Der Dokumentarfilm, der aus diesem Abenteuer hervorgehen wird, wird eine große Momentaufnahme von diesem Teil der Erde sein. Als die Wettervorhersagen gut sind, steigen Karl, Simon, Gerold und Walter zum Lager 1 unter dem Nordpfeiler auf, wo sie auf 5000 Meter schlafen. Am darauf folgenden Tag, es ist der 16. Mai, erreichen sie nach langen 9 Stunden, bei sehr schlechten Schneeverhältnissen und höheren technischen Schwierigkeiten als erwartet, erst um 17.40 die große Gipfelebene des Genyen, ohne jedoch die höchste Erhebung zu betreten, um die Heiligkeit des Berges zu respektieren.
Der Abstieg zwingt zu einer Querung durch die große Südwand mit einem improvisierten Biwak um ein Uhr nachts, zum Glück an einem sicheren Ort, weg von Gletschern und Felsen. Am Tag danach, um 12.00 Uhr, kommen die Alpinisten alle wohlbehalten wieder ins Basislager zurück. Die Begeisterung für den alpinistischen Erfolg ist bei allen groß und der tägliche kulturelle Austausch mit den Mönchen, mit ihren Glauben und Philosophien, ist für uns eine Motivation mehr um die Geheimnisse dieser Täler weiter zu erforschen. Wir haben erfahren dass, obwohl noch nie jemand an diesen Orten vorbeigekommen ist, sie selber allen Bergen die sie von ihrem Tal aus sehen können einen Namen gegeben haben; jeder dieser Namen hat einen göttlichen Sinn, oder er bedeutet den Sitz einer Gottheit. Es erscheint uns also als Pflicht alle Namen dieser wunderbaren Gipfel so zu belassen, wie sie uns die Mönche angegeben haben. Der zweite Teil unserer Reise in das „Gehirn“ des Genyen ist von zahlreichen Blitzschlägen (im wahrsten Sinn des Wortes!) gezeichnet. Die Liebe auf den ersten Blick zum Sashung (der Name eines beschützenden, buddhistischen Gottes), ein patagonischer Pfeiler, fälschlicherweise im Sichuan gelandet, ist von Seiten aller total. Eine schier unwiderstehliche Anziehungskraft besitzt die Ostwand, die beim genaueren hinschauen das Gesicht der Gottheit verbirgt.
Einen Grund mehr es zu versuchen geben uns die Mönche selber, die uns mit Begeisterung bei der Einrichtung des Lager 1 helfen, von wo wir unsere Gipfelversuche starten werden. Und es ist Karl, der wie ein Turbolader Traktor mit 1000 PS, Beine, Lungen und Augen mit sich nach oben zieht, hin zu seiner Spitze. Aber, es gibt ein aber… In dieses Wundertal-Land ist etwas gekommen, eine Art Alien, das nicht Monsun heißt aber sein Zwillingsbruder sein muss. Es kommen Zweifel auf, ob die Götter nicht doch erzürnt mit uns sind, wegen dieser alten Sache mit dem Genyen… aber die Mönche, die sicher besser über Ihren Göttern bescheid wissen, versichern uns dass es nur ein meteorologischer Zufall ist. Das Tal scheint sich in etwas zu verwandeln das uns gegenüber sehr unfreundlich ist, es erspart uns nichts: nicht eine Stunde Sonne die uns trocknen würde, nicht einmal die Möglichkeit Ihre warmen Strahlen zu genießen. Für lange Zeit gibt es nur noch Regen, Tag und Nacht, und die Feuchtigkeit, die von innen und von außen in die Luft steigt, lässt dich nicht mehr los. Sie klebt sehr gut auch an den Kleidern, an den Zelten, an den Schlafsäcken und stellt uns alle auf eine harte psychische und moralische Probe. Wir trinken Suppe aus einem Glas, das noch vom Kaffee dreckig ist, der nach Orange schmeckt.
So manche Verzweiflung kommt im gemeinsamen Zelt zusammen und bestärkt sich einander: die Filmkamera und sein Armin, die keine neue Szene für den Dokumentarfilm drehen können; Karl, Simon, Walter, und Gerold, die von ihrer „portaledge“ auf halber Wand geflüchtet sind, getrieben von den mächtigen Kräften des Urkans und immer noch schauen sie seinen Launen von unten zu. Und kaum versuchst du schüchtern aus deinem Versteck zu kommen weil du meinst es gibt eine Pause, einen Stillstand, hagelt es gleich auf die Kapuze deiner Jacke nieder und zwingt dich zum Rückzug. Aber der Durst (sicherlich nicht nach Wasser) zu klettern und nach Neuem ist mindestens so stark wie die Launen des Wetters; und so teilen wir uns die letzten Tage um etwas mehr Wissen zu erlangen und wenn möglich noch einen alpinistischen Erfolg zu erzielen. Unter einem starken, unaufhörlichen Regenfall begeben sich Walter und Karl, gemeinsam mit zwei Mönchen, die bereit sind sie zu begleiten und ebenso von der Neugierde gepackt sind, in völlig unbekanntes Gebiet und durchqueren die Seitentäler um dann von der gegenüberliegenden Seite wieder ins Basislager zurückzukehren. Bestärkt in ihrem Tun werden sie nur von zwei lächerlichen Satelittenfotos und einem großen Herzen. Einen Tag später starten Gerold und Simon noch einmal zum Sashung, wo sie alles zurückgelassen hatten, Seile, Portaledge, Zelte und viel starken Willen.
Das Ziel ist die „Unvollendete“, die große Tour in Granit, Eis, Schnee, Platten, Rissen und luftigen Biwacks in der Ostwand des Sashung. Die Durchquerung eines Teils des Massivs von Seiten der zwei mutigen „Murmeltiere“ endet im Basislager am Abend des dritten Tages. Nach Stürmen und dauernden schlechten Wetters, unerwarteten Begegnungen mit Nomaden und ihren Yaks, tropischen Wäldern und einer möglichen gebrochenen Rippe des „Traktors“ Karl, der verraten von einer nassen Gummisohle in den Fluss gefallen ist. Letztendlich verlassen auch die zwei Mönche, eingeschüchtert von den schlechten Wetterkonditionen, die Unseren mit Gesten die sich in gesprochener Sprache so übersetzen lassen: „ Wir dorthin??, seit ihr verrückt: wer hier hinauf geht stirbt und wenn ihr geht werdet ihr sterben.!“. Trotz der „guten Wünsche“ und wieder einmal nass bis auf die Haut kehren Karl und Walter zurück ins Basislager mit unwiederbringlichen Impressionen, Bildern und fotografischen Details aus dem Zonag-Tal, dem Pass ohne Namen auf 5160 Metern Höhe und den warmen Termalquellen längs des Flusses im Tal. Von diesem Moment an, wird unser Expeditionsleiter zu Sir Charles Underchurch (!), so wie die englischen Forscher vor geraumer Zeit. Die Nachricht der gelungenen Unternehmung der zwei Flüchtlinge, die heil vom „Mördertal“ zurückgekehrt sind, verbreitet sich rasch bei den Mönchen des Klosters: alle kommen um sie zu beglückwünschen, mit einem breiten Lächeln und den Daumen nach oben zeigend, bekunden sie ihre Zufriedenheit über das Abenteuer.
In der Zwischenzeit beutelt der Zwillingsbruder des Monsums weiter das gesamte Gebiet mit unerhörter Gewalt und auf der anderen Seite der Front kämpfen Gerold und Simon verzweifelt mit den extremen Schwierigkeiten der Wand, zusätzlich zu den dauernden Tiraden die, die Götter des Tales mit Säbel und Schwert gegen die Seilschaft zielen. Dreieinhalb Tage des Kampfes, aber, obwohl Karl und Walter zur Verstärkung nachkommen und letzterer sich wie Sisifos über die Fixseile rauf und runter arbeitet bleibt alles unnütz: der Mut war ganz auf unserer Seite, aber gegen diese, in Wahrheit etwas vulgäre, chinesische Imitation des Monsums war nichts zu machen. Der Verzicht zu Gunsten der Sicherheit war für alle Pflicht, und so genießen wir alle noch einmal gemeinsam den letzten Abend vor unserer Abreise, inmitten des Wundertals. Für diesen einmaligen Moment, scheinen der Mond und die Sterne wieder über unseren Köpfen und es sieht fast so aus als ob sogar der Genyen uns seine letzten Geheimnisse enthüllen möchte. Es bleibt die absolute Erstbegehung der Nordseite dieses heiligen Berges, eine große Tour in perfekten Alpinstil und die sich verdientermaßen „das Geheimnis des Mount Genyen“ nennen wird. Wir werden wieder nach Hause gehen, aber es ist kein Abschied für immer, das denken wir alle, zu viele Unbekannte sind uns im Herzen und in den Beinen geblieben um uns zu überzeugen nicht zurückzukehren.
Schuld waren ein paar Tropfen zu viel, die das Basislager in einen Sumpf mit Überschwemmungsgefahr verwandelt haben, wegen des Flusses in dem wir auch gebadet haben. So viele Freundschaftsbekundungen der Mönche, jung und alt und der Waisenkinder die sie betreuen, während wir unsere Abreise vorbereiten: ein Grund mehr um dieses Tal nicht zu vergessen. Persönlich kann ich mich an Momente unaufhaltsamer Tränen unter den rieseigen Thron des K2 erinnern, gebunden an unauflöslichen Knoten mit dem Berg der Berge; und dennoch verharre ich staunend und fast verwundert wenn sich die Natur dieses Tales in ein ebenso ergreifendes Licht entzündet. Riesige Rhododendren die graue Felswände auffrischen, Vögel mit tausend Gesängen im Morgengrauen, Hasen die im Basislager herumlaufen und Gämse zwischen den Granitwänden. Jeden Moment werden wir von den Splittern einer Explosion getroffen, von der wir weder die Zeit noch die Sicherheit haben werden die wunderbarsten Auswirkungen zu sehen. Jetzt müssen wir heimkehren, jeder von uns einen Teil der Geheimnisse des Genyen und des Wundertals in sich tragend.
Es erwartet uns eine lange und anstrengende Rückreise; aber jeder von uns wird ab heute reicher sein, jeder seine eigenen Wege gehend, wegen der Gänsehaut die ihm über den Rücken laufen wird, wenn er mit den Augen und den Herzen an einem der wunderbarsten Flecken der Erde, den wir je gehofft haben zu entdecken, zurückkehren wird.
Aufwiedersehen, Wundertal, hoffentlich bis bald… TASHI-DELEK. |